O qui perpetua

Anicius Manlius Severinus Boethius (c. 480 – 524)

Lateinisch:

O qui perpetua mundum ratione gubernas,
Terrarum cælique sator, qui tempus ab ævo,
Ire iubes stabilisque manens das cuncta moveri,
Quem non externæ pepulerunt fingere causæ
Materiæ fluitantis opus, verum insita summi
Forma boni livore carens, tu cuncta superno
Ducis ab exemplo; pulchrum pulcherrimus ipse
Mundum mente gerens similique in imagine formans
Perfectasque iubens perfectum absolvere partes.
Tu numeris elementa ligas, ut frigora flammis
Arida conveniant liquidis, ne purior ignis
Evolet aut mersas deducant pondera terras.
Tu triplicis mediam naturæ cuncta moventem
Connectens animam per consona membra resolvis.
Quæ cum secta duos motum glomeravit in orbes,
In semet reditura meat mentemque profundam
Circuit et simili convertit imagine cælum.
Tu causis animas paribus vitasque minores
Provehis et levibus sublimes curribus aptans
In cælum terramque seris, quas lege benigna
Ad te conversas reduci facis igne reverti.
Da, pater, augustam menti conscendere sedem,
Da fontem lustrare boni, da luce reperta
In te conspicuos animi defigere visus.
Dissice terrenæ nebulas et pondera molis
Atque tuo splendore mica; tu namque serenum,
Tu requies tranquilla piis, te cernere finis,
Principium, vector, dux, semita, terminus idem.

Deutsch:

O der steuert die Welt nach alles durchschauendem Ratschluß,
Urvater du von Himmel und Erde, die Zeit aus der Urzeit
Setzest in Lauf und alles bewegst du, du Gleicher von immer;
Keinem Grunde gefolgt, der außer dir, bildest das Werk du
Fern dem gestaltlosen Stoff, allein nach der Form, die dir einwohnt
Höchsten Gutes, mit keinerlei Neid; du vom obersten Beispiel
Nimmst dies alles, was ist; die schöne Welt, selber du Schönster,
Führst du sinnvoll und formst sie dir ähnlich im Bilde, so daß in
Teilen vollendeter Art sie selbst sich vollende; das willst du.
Du Elementen gibst Zahlen und Halt, daß Fröste und Flammen
Walten zugleich, auch Dürre und Feuchte, daß reiner das Feuer
Weder entflüchte, noch hemmungslos sinke durch Schwere die Erde.
Du gibst das waltende Band der Natur, der dreifachen, gibst ihr
All zur Mitte die Seele und zeigst sie im Wohllaut der Glieder.
Sie geteilt hat Bewegung vollbracht in ihren zwei Welten,
Kommt doch und will zu sich selber zurück, und die Tiefen des Geistes
Nun umschreitend hebt auf sie zum Bilde, das gleich ist dem Himmel.
Du lässest so die Seelen gedeihn und geringeres Leben
Gleichen Grundes, du hebst mit dem Fahrzug hinauf die erhabnen,
Säest sie aus in Himmel und Erde, du guten Gesetzes
Gönnst, wenn sie Heimkehr suchen zu dir, durch das Feuer Zurückkunft.
Gib du, Vater, dem Geist, den hohen Sitz zu ersteigen,
Gib die Schauung des Guten am Quell, laß wieder zum Licht ihn,
Gib, daß mit leuchtenden Augen der Geist an dir seinen Halt hat.
Scheuche die Nebel hinweg, die Schwere, die irdische Mühsal,
Zücke aus deinem Glanze den Blitz; du bist ja der Lichtraum,
Du die Rast und der Friede der Frommen, dich sehen ist Endziel,
Ausgang, Beweger, Führer und Weg und Abschluß du alles.

Deutsch von Konrad Weiss (1880 - 1940)

fontes

Boethius, Trost der Philosophie. Deutsch von Karl Büchner.
Mit einer Einführung von Friedrich Klingner. Leipzig o.J.

Boethius, Trost der Philosophie. Lateinisch und Deutsch.
Übertragen von Eberhard Gothein. Zürich 1949

Konrad Weiss, Die Gedichte aus der Tröstung der Philosophie des Boethius (lateinisch und deutsch).
Frankfurt a.M. 1956

 

scholia / marginalia

Boethius (um 480 - 524), hoher Beamter am Hofe von Theoderich, dem König der Ostgoten, wurde von diesem des Verrats bezichtigt, und schließlich ließ er das Todesurteil nach langem Zögern im Jahre 524 vollziehen.

Als Boethius im Kerker des Urteils und der Hinrichtung harrte, verfasste er das Werk „Trost der Philosophie“ oder „Tröstungen der Philosophie“. Den Gefangenen besucht die Philosophia in Frauengestalt, und dieser hält mit ihr Zwiesprache.

Der wiedergegebenen Textstelle, die als „Gebet“ (Drittes Buch, neuntes Gedicht) bezeichnet wird, gehen folgende Worte aus dem Gespräch zwischen beiden unmittelbar voraus:

„Da du also nun erkannt hast, was jenes Wahre ist, auf der anderen Seite, was ein Glück nur vorlügt, bleibt jetzt noch übrig, daß du erkennst, woher du das wahre holen kannst.

Das, sagte ich, erwarte ich schon längst sehnsüchtig.

Aber da man, sagte sie, wie es im Timaios meinem Plato gefällt, auch in den kleinsten Dingen göttliche Hilfe anflehen muß: was müssen wir nach deiner Meinung jetzt tun, damit wir die Heimat jenes höchsten Gutes zu finden verdienen?

Wir müssen den Vater aller Dinge anrufen, sagte ich. Wenn man dies unterläßt, kann kein Beginn recht begründet sein.

Richtig, sagte sie, und begann sogleich in folgender Weise: ...“

(Boethius, Trost der Philosophie. Deutsch von Karl Büchner. Leipzig o.J., S. 74)

Seine theologischen Schriften erweisen Boethius als Christen, er gilt manchen als der erste Scholastiker, der „Trost der Philosophie“ ist auch der Antike verpflichtet, in Form und Inhalt.

„Ob Boethius Christ gewesen sei, kann heute nicht mehr wie im neunzehnten Jahrhundert zweifelhaft sei. Es steht fest, daß er der Verfasser einiger der theologischen Abhandlungen gewesen ist, die unter seinem Namen überliefert sind. Im ‚Trost der Philosophie’ bezeugt er sein Christentum weniger durch unmittelbaren Bezug oder Anspielung, mehr durch Rücksicht auf die christlichen Denker und ihre Fragen und endlich dadurch, daß er vieles meidet, was bei den nichtchristlichen Neuplatonikern nicht leicht fehlt, vor allem die vielgestufte Unterscheidung der Wesen im Bereich des Göttlichen; bei ihm gibt es keinen Unterschied zwischen Weltschöpfer und innerweltlichen Göttern und überhimmlischen göttlichen Wesenheiten.“ (Friedrich Klingner, in: Boethius, Trost der Philosophie. Deutsch von Karl Büchner. Mit einer Einfühung von Friedrich Klingner. Leipzig o.J., S. XLIX)

Notker Labeo oder Notker der Deutsche (um 950 – 1022) hat „De consolatione philosophiae“ ins Deutsche übertragen.

metrum

Versmaß: Hexameter

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