Omni die dic Mariae
Geschrieben von: Bernardus Morlanensis
Bernardus Morlanensis (um 1140)
Lateinisch:
Omni die dic Mariæ,
Mea, laudes, anima,
Eius festa, eius gesta
Cole splendidissima.
Contemplare et mirare
Eius celsitudinem,
Dic felicem genetricem,
Dic beatam virginem.
Ipsam cole, ut de mole
Criminum te liberet,
Hanc appella, ne procella
Vitiorum superet.
Hæc persona nobis bona
Contulit cælestia,
Hæc regina nos divina
Illustravit gratia.
Lingua mea, dic tropæa
Virginis puerperæ,
Quæ inflictum maledictum
Miro transfert genere.
Sine fine dic reginæ
Mundi laudum cantica,
Eius bona semper sona,
Semper illam prædica.
Omnes mei sensus, ei
Personate gloriam,
Frequentate tam beatæ
Virginis memoriam.
Nullus certe tam disertæ
Exstat eloquentiæ,
Qui condignos promat hymnos
Eius excellentiæ.
Omnes laudent, unde gaudent,
Matrem Dei virginem,
Nullus fingat, quod attingat
Eius celsitudinem.
Nemo dicet, quantum licet
Laudans, eius merita,
Cuius cuncta sunt creata
Ditioni subdita.
Sed necesse, quod prodesse
Constat piis mentibus,
Ut intendam et impendam
Me ipsius laudibus.
Quamvis sciam, quod Mariam
Nemo digne prædicet,
Tamen vanus et insanus
Est, qui eam reticet.
Cuius vita erudita
Disciplina cælica
Argumenta et figmenta
Destruxit hæretica.
Cuius mores tamquam flores
Exornant ecclesiam,
Actiones et sermones
Miram præstant gratiam.
Evæ crimen nobis limen
Paradisi clauserat,
Hæc, dum credit et obœdit,
Cæli claustra reserat.
Propter Evam homo sæevam
Accepit sententiam,
Per Mariam habet viam,
Quae ducit ad patriam.
Hæc amanda et laudanda
Cunctis specialiter,
Venerari et precari
Decet illam iugiter.
Ipsam posco, quam cognosco
Posse prorsus omnia,
Ut evellat et repellat,
Quæcumque sunt noxia.
Ipsa donet, ut, quod monet
Eius natus, faciam,
Ut finita carnis vita
Lætus hunc aspiciam.
Deutsch:
Alle Tage sing und sage
Lob der Himmelskönigin!
Ihre Gnaden, ihre Taten
Ehr, o Seel’ mit Demutsinn!
Auserlesen ist ihr Wesen,
Mutter sie und Jungfrau war;
Sprich sie selig, überselig:
Groß ist sie und wunderbar.
Ihr vertraue, auf sie baue,
Daß sie dich von Schuld befrei’
Und im Streite dir zu Seite
Wider alle Feinde sei!
Gotterkoren, hat geboren
Sie den Heiland aller Welt,
Der gegeben Licht und Leben
Und den Himmel offen hält.
Sie alleine ist die reine
Jungfrau und Gebärerin;
Ihrem Kinde wich die Sünde,
Lob sei dieser Königin!
Ihre Ehren zu vermehren,
Sei, o Seele, stets bereit!
Benedeie sie und freue
Dich ob ihrer Herrlichkeit.
Ohne Ende zu ihr wende
Dich mit Lieb’ und Lobgesang,
Ihr’ gedenke, zu ihr lenke
Allen Sinn dein Leben lang.
Keine Weise kann zum Preise
Ihrer Hoheit würdig sein;
Keine Zierde gleicht der Würde,
Die empfangen sie allein.
Loben wollen wir und sollen
Gottes Mutter allzumal;
Preisen immer – aber nimmer
Zählt zu ihrer Gnaden Zahl.
Glaub’ doch keiner, daß je einer
Ihre Taten würdig lob’,
Da die Gottheit ihre Hoheit
Über alle Welt erhob.
Dennoch will ich, weil es billig
Ist und frommen Sinn erfreu,
Daß mein Leben und mein Streben
Ihrem Lobe sei geweiht.
Dennoch klingen, hoch sich schwingen
Soll ihr Lob zu jeder Stund’!
Wer da schweiget, Ehr’ nicht zeiget,
Ist ein Tor in Herz und Mund.
Denn ihr Leben und ihr Streben,
Ihr wahrhafter Himmelssinn,
Ihre Klarheit, ihre Wahrheit
Gen ob allen Zweifel hin.
Ihre Sitten, schönste Blüten,
Sind der ganzen Kirche Zier;
Wort und Werke, Tugendstärke,
Zeigen höchste Gnade dir.
Fest verriegelt und versiegelt
War des Himmels Tür und Tor;
Ihre stille Glaubensfülle
Hob den Riegel bald empor.
Evas Kinder, all uns Sünder,
Hielt ein schwerer Fluch gebannt;
Durch Marien ist verliehen
Uns der Weg ins Vaterland.
Hoch lobpreise, Lieb’ erweise
Jeder ihr nach Kräften sein;
Sie verehren, Hilf? Begehren
Laßt uns alle insgemein.
Und ich flehe, da ich sehe
Wie bei Gott sie möchtig ist,
Daß die Hehre von uns wehre
Böses Leid zu jeder Frist.
Ach, sie gebe, daß ich lebe,
Wie es will ihr lieber Sohn,
Daß ich doben ihn kann loben,
Ewig schaun im Himmelsthron!
Deutsch von Heinrich Bone (1813 - 1893)
fontes
Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Ein Jahrtausend Lateinischer Hymnendichtung. Erster Teil, S. 219f.
O. Hellinghaus, Hundert lateinische Marienhymnen mit den Nachbildungen deutscher Dichter, Mönchengladbach 1921, S. 76 - 83
scholia / marginalia
Der Rhythmus secundus (Omni die dic Mariae) stammt aus dem Mariale des Bernhard von Morlas, das mehr als 26000 Verse umfasst.
Mag diese Marienhymne heute auch nicht mehr so bekannt sein wie etwa die marianisch en Antiphonen (Salve, Regina; Alma Redemptoris Mater; Sub tuum praesidium), so gehört sie gleichwohl zu den schönsten Mariendichtungen des Mittelalters.
Durch die Übersetzung von Heinrich Bone (1813 – 1893) hat sie ein Heimatrecht in deutscher Sprache gewonnen.
Die Übersetzung von Heinrich Bone ist von O. Hellinghaus um die 10., 11. und 18. Strophe ergänzt worden.
Beim ersten Hinsehen glaubt man festzustellen, dass der Autor nur den zweiten und vierten Vers jeder Strophe sich reimen lässt. Bei genauerer Betrachtung bemerkt man jedoch, dass dieser scheinbare Verzicht durchaus wettgemacht wird. Denn der Dichter verwendet im ersten und dritten Vers jeder Strophe Binnenreime, die auf die Reimsilben am Ende der Verse reimen. Damit gelingt es Bernhard von Morlas, statt vier Reimwörter, wie in vierzeiligen Strophen im Allgemeinen üblich, in einer Strophe, höchst virtuos, deren sechs unterzubringen:
Omni die dic Mariæ,
Mea, laudes, anima,
Eius festa, eius gesta
Cole splendidissima.
Heinrich Bone hat dieses Spiel mit Reim und Binnenreim in seiner deutschen Übertragung sehr sprachgewandt nachzubilden versucht.
metrum
Versmaß: Vierzeilige, trochäische Strophen.
Es reimen sich in jeder Strophe der zweite und vierte Vers. Darüber hinaus verwendet der Autor im ersten und dritten Vers Binnenreime, die auf die Reimsilben am Ende der Verse reimen.
Henry Spitzmuller notiert das Reimschema folgendermaßen: aabccb (Henry Spitzmuller, Poésie latine chrétienne du Moyen Age IIIe - XVe siècle. Textes recueillis, traduits et commentés par Henry Spitzmuller. Bruges: Desclée de Brouwer, 1971, S. 802, Anm. 23), vergleiche scholia / marginalia.