Gratulemur ad festivum

Adam von Sankt Viktor (* um 1100 - 1192)

Lateinisch:

Gratulemur
Ad festivum,
Iucundemur
Ad votivum
Iohannis præconium;
Sic versetur
Laus in ore,
Ne fraudetur
Cor sapore,
Quo degustet gaudium.

Hic est Christi prædilectus,
Cui reclinans supra pectus
Hausit sapientiam
Huic in cruce commendavit
Christus matrem, hic servavit
Virgo viri nesciam.

Intus ardens caritate,
Foris lucens puritate,
Signis et eloquio,
Ut ab æstu criminali
Sic immunis a pœnali
Prodiit ex dolio.

Vim veneni superavit,
Morti, morbis imperavit
Necnon et dæmonibus;
Sed vir tantae potestatis
Non minoris pietatis
Erat tribulantibus.

Cum gemmarum partes fractas
Solidasset, has distractas
Tribuit pauperibus;
Inexhaustum fert thesaurum,
Qui de virgis fecit aurum,
Gemmas de lapidibus.

Invitatur ab amico
Convivari, Christum dico,
Visum non discipulis;
De sepulcro, quo descendit,
Redit vivus; sic ascendit
Frui summis epulis.

Testem habes populum,
Immo, si vis, oculum,
Quod ad eius tumulum
Manna scatet, epulum
De Christi convivio.
Scribens evangelium
Aquilæ fert proprium,
Cernens solis radium
Scilicet principium, V
erbum in principio.

Huis signis est conversa
Gens gentilis, gens perversa,
Gens totius Asiæ;
Huius scriptis illustratur,
Illustrata solidatur Unitas ecclesiæ.

Salve, salvi vas pudoris,
Vas cælestis plenum roris,
Mundum intus, clarum foris,
Nobile per omnia;
Fac nos sequi sanctitatem,
Fac per mentis puritatem
Contemplari trinitatem
Unam in substantia.

Deutsch:

Kündet feiernd
Das Gedenken,
Euch erneuernd
Zu versenken
In Johannes' frommen Preis;
Laßt die Kehlen
Lob ertönen,
Daß die Seelen
Nicht entwöhnen,
Was sie süß zu laben weiß.

Er, in Christi Lieb der Höchste,
Lag an seiner Brust der Nächste,
Trank der Weisheit reichsten Rat;
Ja, ihm wies in Kreuzes Peinen
Christ die Mutter: ihm, dem Reinen,
Sie, der nie ein Mann genaht.

Liebe wars, die in ihm glühte,
Reinheit, die aus ihm erblühte,
Wort und Wunder, staunenswert;
Wie ihn Sünde nie versengte,
Ließ ihn auch die peinverhängte
Glut des Kessels unversehrt.

Tötlich Gift muß ihn verschonen,
Schmählich flüchten die Dämonen,
Tod und Krankheit sind gebannt;
Doch erhöht zu solchen Mächten
Bleibt er auch den ärmsten Knechten
Gleich in Liebe zugewandt.

Die zerbrochnen Edelsteine
Fügt er neu zu klarem Scheine,
Läßt sie Armen nützlich sein;
Niemals geht sein Schatz zur Neige
Denn er macht zu Gold die Zweige,
Macht den Kies zum Edelstein.

Treue Freundschaft ihm zu weisen,
Lädt der Heiland ihn zum Speisen,
Christus, nur von ihm gesehn;
Aus der Grube kehrt er lebend,
Folgt dem Rufe dann entschwebend
Auf zum Mahl in Himmelshöhn,

Treu bewährts der Zeugen Schar,
Ja, das Auge sieht es klar:
Christi Mahl wird offenbar,
Quillt als Manna immerdar
An der Grabstatt selgem Ort.
Sein erhabner Heilsbericht
Trägt des Adlers Angesicht;
Denn er scheut die Sonne nicht,
Schaut des Anfangs höchstes Licht:
Und im Anfang war das Wort.

Seiner Wunder Heilsbelehrung
Bringt die Heiden zur Bekehrung,
Asien folgt ihm wahnbefreit;
Seiner Schriften Heilsenthüllung
Bringt enthüllend zur Erfüllung
Unsrer Kirche Einigkeit.

Kelch, von treuer Scham verschlossen,
Dem nur Himmels Tau erflossen,
Lichterfüllt und lichtumgossen,
Kelch der reinsten Adelsglut:
Führ uns an mit heilgem Segen,
Führ auf Geistes lautern Wegen
Jener Dreiheit uns entgegen,
Die in ewger Einheit ruht.

Deutsch von Franz Wellner (1889 – 1956)

fontes

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh­rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 58 – 63

Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955

Die Erstauflage des Werkes erschien 1937 in Wien. Nach Auskunft des Verlages verfügt Kösel nicht mehr über die Rechte an dem genannten Buch und kennt auch keinen Rechtsnachfolger. Wir gehen daher davon aus, dass unserer Wiedergabe hier nichts entgegensteht.

scholia / marginalia

Sequentia de s. Iohanne Evangelista Sequenz auf den hl. Evangelisten Johannes

"Sequenz auf den hl. Evangelisten Johannes [27. Dezember]. – Der Evangelist Johannes war der Lieblingsjünger Jesu; er lag beim letzten Abendmahl an seiner Brust [Joh. 13, 23]; seiner Obhut empfahl Jesus vom Kreuz herab die Mutter [Joh. 19, 27].

Nach der Aussendung des Hl. Geistes begab sich Johannes nach Asien und gründete daselbst zahlreiche Kirchen. Zu Ephesus wurde er ergriffen und nach Rom gebracht; der Kaiser Domitianus [81–96] hieß ihn von der 'porta latina' in einen Kessel voll siedenden Öls setzen; doch Johannes ging unversehrt daraus hervor. [Fest des 'hl. Johannes vor dem latinischen Tor', 6. Mai]. Auf die Insel Patmos verbannt, schrieb er daselbst das Buch der Offenbarung; nach des Kaisers Tode aber kehrte er nach Ephesus zurück. Von den späteren Wundertaten des Apostels nimmt die Sequenz auf die folgenden Bezug: Um Aristodemus, den Oberpriester der Diana, zu bekehren, trank Johannes von dem Gift, das vorher zwei Menschen getötet hatte, und es schadete ihm nicht. – Der Philosoph Kraton hatte zwei reichen Jünglingen geboten zum Zeichen der Weltverachtung all ihr Gut für einige Edelsteine zu verkaufen und diese dann vor dem Volke zu zerbrechen; Johannes tadelte ihn, machte die Edelsteine wieder ganz und ließ sie zugunsten der Armen verkaufen. – Zwei andere Jünglinge, die all ihr Gut den Armen gegeben hatten und dem Apostel nachfolgten, wurden ob ihrer Armut traurig; da hieß Johannes sie Gerten und Kiesel vom Meeresstrande holen und verwandelte diese in Gold und Edelgestein.

Als Johannes dem Tode nahe war, erschien ihm der Heiland mit seinen Jüngern und lud ihn zu seinem Tisch; Johannes ließ in der Kirche eine viereckige Grube machen, stieg vor allem Volke hinab und betete. Da ward ein großes Licht um ihn, daß keiner ihn mehr zu sehen vermochte; und als das Licht verschwand, sah man das Grab voll Manna, das wie feiner Sand in einer Quelle aufwallte.

Das Evangelium des Johannes trägt das Symbol des Adlers; ehe der Apostel es auf Bitten seiner Gläubigen niederschrieb, verweilte er lange im Beten und Fasten; wie aus höchster Verzückung erwachend begann er dann mit dem Verse: 'Im Anfang war das Wort.'"

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh­rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 58f.

metrum

—◡—◡—◡—◡/—◡—◡—◡—

der Septenarius wird nach der Cäsur aufgeteilt, und zudem wird der erste Halbvers wiederholt.

—◡—◡—◡—◡ —◡—◡—◡—◡ —◡—◡—◡—

So entsteht eine dreizeilige (Teil)Strophe, der drei gleich gebaute Verse als Gegenstrophe beigefügt werden; damit ist die Strophe nun sechszeilig. – Reimschema: aabccb. Wird die erste Hälfte des Septenarius vervielfacht, ergeben sich achtzeilige oder zehnzeilige Strophen, und das Reimschema ist dann entsprechend aaabcccb oder aaaabccccb.

Die Eingangsstrophe weicht von dieser Strophenform ab; die Verse sind kürzer, kreuzweise gereimt. Reimschema: ababc dedec

Franz Wellner, der Übersetzer und Herausgeber der Sequenzen von Adam von Sankt-Viktor, behandelt in seiner Ausgabe Versbau, Versformen, Reim, Strophenbau, Strophenformen und Sequenzenaufbau des Dichters eingehend; hier sind zahlreiche weiterführende und aufschlussreiche Hinweise zu finden.

Kontakt/ImpressumDatenschutz