Salve, mater salvatoris

Adam von Sankt Viktor (* um 1100 - 1192)

Lateinisch:

Salve, mater salvatoris,
Vas electum, vas honoris,
Vas cælestis gratiæ,
Ab æterno vas provisum,
Vas insigne, vas excisum
Manu sapientiæ.

Salve, verbi sacra parens,
Flos de spina, spina carens,
Flos, spineti gloria;
Nos spinetum, nos peccati
Spina sumus cruentati,
Sed tu spinæ nescia.

Porta clausa, fons hortorum,
Cella custos unguentorum,
Cella pigmentaria;
Cinnamomi calamum
Mirram, tus et balsamum
Superas fragantia.

Salve, decus virginum,
Mediatrix hominum,
Salutis puerpera,
Myrtus temperantiæ,
Rosa patientiæ,
Nardus odorifera.

Tu convallis humilis,
Terra non arabilis,
Quæ fructum parturiit;
Flos campi,convallium
Singulare lilium
Christus ex te prodiit.

Tu cælestis paradisus
Libanusque non incisus
Vaporans dulcedinem;
Tu candoris et decoris,
Tu dulcoris et odoris
Habes plenitudinem.

Tu thronus es Salomonis,
Cui nullus par in Thronis
Arte vel materia;
Ebur candens castitatis,
Aurum fulvum caritatis
Præsignant mysteria.

Palmam præfers singularem
Nec in terris habes parem
Nec in cæli curia;
Laus humani generis,
Virtutum præ ceteris
Habes privilegia.

Sol luna lucidior
Et luna sideribus;
Sic Maria dignior
Creaturis omnibus.

Lux eclipsim nesciens
Virginis est castitas,
Ardor indeficiens
Immortalis caritas.

Salve, mater pietatis
Et totius trinitatis
Nobilis triclinium,
Verbi tamen incarnati
Speciale maiestati
Præparans hospitium.

O Maria, stella maris,
Dignitate singularis,
Super omnes ordinaris
Ordines cælestium;
In supremo sita poli,
Nos commenda tuæ proli,
Ne terrores sive doli
Nos supplantent hostium.

In procinctu constituti
Te tuente simus tuti,
Pervicacis et versuti
Tuæ cedat vis virtuti,
Dolus providentiæ.
Iesu, verbum summi patris,
Serva servos tuæ matris,
Solve reos, salva gratis
Et nos tuæ claritatis
Configura gloriæ.

Deutsch:

Heil dir, der das Heil entsprossen:
Kelch der Hoheit, ehrumflossen,
Kelch des Lichts aus Himmelsland;
Kelch ersehn vor allen Zeiten,
Kelch, geformt zu Herrlichkeiten
Durch des Schöpfers Hand.

Heil dir, die des Worts genesen,
Blume, hold vom Dorn erlesen
Blume, allen Dorns befreit;
Unsre Dornen sind die Sünden,
Die uns blutge Wunden schinden;
Du nur bist des Dorns gefeit.

Quell im Garten, fest verschloßne
Tempelpforte, duftumfloßne
Kammer voll der reichsten Zier:
Zimt und Myrrhe sind verbraucht,
Weihrauchs Balsam ist verhaucht,
Aller Duft ist nur bei dir.

Heil dir Gnadenmehrerin,
Weltenheils Gebärerin,
Aller Jungfraun blankster Schild:
Rose bist du der Geduld,
Myrrhe aller sanften Huld,
Narde, die von Düften quillt.

Tal, von Demut übertaut,
Feld, von keinem Pflug bebaut,
Herrlich hast du Frucht gebracht:
Wie im Feld die Blume blüht,
Wie im Tal die Lilie glüht,
So ist Christ aus dir erwacht.

Himmels Eden, neu erschlossen,
Harz, aus heilem Stamm erflossen,
Reinsten Hauches überreich:
Was auch sprieße, Duft ergieße,
Was an Süße hold erfließe,
Nichts ist dir an Wonnen gleich.

Thron, wie Salomons erhaben,
Dem an Kunst und edlen Gaben
Keiner jemals gleichgetan:
Elfenbein der keuschen Sinne,
Rotes Gold der höchsten Minne
Künden dein Geheimnis an.

Einzig ist dein Siegeszeichen,
Denn es hat nicht seinesgleichen
Unterm Erd- und Himmelschor;
Menschenwesens höchste Zier,
Alle Tugend strahlt aus dir
Mit dem hellsten Glanz hervor.

Wie den Mond die Sonne bleicht
Und der Mond der Sternenschar,
Strahlt Maria unerreicht
Von der andern Schöpfung klar.

Licht, das kein Erblassen kennt,
Ist die reine Jungfrauschaft;
Glut, die ohn Ermatten brennt,
Ist der Liebe ewge Kraft.

Heil dir, Mutter, liebumflossen:
Herrlich war dein Saal erschlossen
Thronender Dreifaltigkeit;
Doch dem fleischgewordnen Worte
War empfangend deine Pforte
Um so festlicher bereit.

O Maria, Stern der Meere,
Reinste du an Licht und Ehre,
Aller Engel hohe Chöre
Überstrahlst du wunderbar;
Nächste du an Himmels Throne,
Bitt für uns bei deinem Sohne,
Daß der Feind mit seinem Hohne
Nicht erschüttre unsre Schar.

Die wir fromm in Waffen schreiten,
Laß uns deinen Schutz umbreiten,
Laß die List vergeblich streiten,
Laß ihr alle Kraft entgleiten
Vor der Tugend weiser Sicht;
Jesus, Wort aus Vaters Höhen:
Die wir treu zur Mutter flehen,
Komm, uns Sünder zu erretten,
Lös begnadend unsre Ketten,
Kleid uns in dein Strahlenlicht.

Deutsch von Franz Wellner (1889 – 1956)

fontes

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh­rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 278 – 285 Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955

Die Erstauflage des Werkes erschien 1937 in Wien. Nach Auskunft des Verlages verfügt Kösel nicht mehr über die Rechte an dem genannten Buch und kennt auch keinen Rechtsnachfolger. Wir gehen daher davon aus, dass unserer Wiedergabe hier nichts entgegensteht.

scholia / marginalia

Sequentia in nativitate Beatae Mariae Virginis
Sequenz auf Mariä Geburt

"Sequenz auf Mariä Geburt [8. September]. – Unter allen Sequenzen Adams von St. Viktor stand die vorliegende seit je im höchsten Ansehen; knüpfte sich doch an sie die Legende, daß, als der Dichter die Worte sang: 'Heil dir, Mutter, liebumflossen ...' [Strophe 11], die seligste Jungfrau in eigener Person ihm erschien und durch ein Neigen des Hauptes dankend seinen frommen Gruß erwiderte. Mit welcher Anhänglichkeit die Viktoriner das also begnadete Werk ihres Ordensbruders verehrten, mag man daraus ersehen, daß noch im Jahre 1636, nachdem längst alle Sequenzen [mit Ausnahme der fünf bis heute im Gebrauch stehenden] aus der Meß-Liturgie entfernt waren, das Generalkapitel von St. Viktor beschloß, diese Sequenz bei allen Messen zu Ehren der seligsten Jungfrau singen zu lassen.

Diese Sequenz wurde auch [wie die Sequenz 'Mundi renovatio'] von altersher immer wieder ins Deutsche übersetzt, so zu Ende des 14. Jahrhunderts durch Hermann [Johannes], den 'Mönch von Salzburg', und im 15. Jahrhundert durch Heinrich von Laufenberg [ca. 1395 bis nach 1460]; man wird diese große Beliebtheit verstehen, wenn man die Fülle herrlicher Bilder betrachtet, durch welche unser Dichter hier die Schönheit und Reinheit der jungfräulichen Mutter Gottes darzustellen weiß. Sie ist die Lilie unter Dornen [Hoh. L. 4, 15]; die von Ezechiel erschaute verschlossene Tempelpforte [Ezech, 44, 1]; die Schatzkammer aller Wohlgerüche, die König Ezechias den fremden Gästen zeigt [Isaias 39, 2]. Ihr Duft ist wie Zimt, wie wohlriechender Balsam und erlesene Myrrhe [Eccles. 24, 21]. Sie ist die Myrrhe, die statt der Nesseln wächst [Isaias 55, 13]; die Rose von Jericho [Eccles. 24 18]; das Tal, in dem die Lilie erblüht [Hoh. L. 2, 1].

Sie ist der Thron Salomons, dessen Elfenbein ihr Keuschheit, dessen rotes Gold ihre Liebe versinnlicht [III. Kön. 10, 18]; sie ist der Saal, in welchem die Dreieinigkeit thront, und die selige Kammer, in welcher das Wort Gottes Fleisch geworden ist." Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh­rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 278f.

metrum

Die Verse der Strophe dieser Sequenz entstehen aus dem trochäischen Septenarius;

—◡—◡—◡—◡/—◡—◡—◡—

der Septenarius wird nach der Cäsur aufgeteilt, und zudem wird der erste Halbvers wiederholt.

—◡—◡—◡—◡
—◡—◡—◡—◡
—◡—◡—◡—

So entsteht eine dreizeilige (Teil)Strophe, der drei gleich gebaute Verse als Gegenstrophe beigefügt werden; damit ist die Strophe nun sechszeilig. – Reimschema: aabccb. Wird die erste Hälfte des Septenarius vervielfacht, ergeben sich achtzeilige oder zehnzeilige Strophen, und das Reimschema ist dann entsprechend aaabcccb oder aaaabccccb.

Nach der achten Strophe sind zwei vierzeilige Strophen eingefügt.

Franz Wellner, der Übersetzer und Herausgeber der Sequenzen von Adam von Sankt-Viktor, behandelt in seiner Ausgabe Versbau, Versformen, Reim, Strophenbau, Strophenformen und Sequenzenaufbau des Dichters eingehend; hier sind zahlreiche weiterführende und aufschlussreiche Hinweise zu finden.

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