Ad lectorem

Die Dichtungen aus der Zeit des frühen Christentums bis zum ausgehenden Mittelalter, die auf diesen Seiten zugänglich werden, gehören zum unvergänglichen Schatz abendländischer Kultur und Dichtung. Die Aufgabe der Erben, auf die er gekommen ist, muss es sein, ihn zu pflegen, ihn lebendig zu erhalten, im Bewusstsein zu bewahren, weiter zu überliefern und immer wieder von neuem zu erschließen und zu verbreiten.

Diese christlichen Dichtungen besingen die Schöpfung, preisen ihren Schöpfer und feiern die Geheimnisse des Glaubens. Ihre Verfasser waren gelehrte Männer, Kirchenlehrer, Mönche, Ordensfrauen, Bischöfe und Päpste. Die Reihe ihrer erlauchten Namen beginnt am Ende des römischen Reiches in der Frühzeit des Christentums mit Hilarius, Ambrosius, Prudentius, Fortunatus, Gregor dem Grossen, führt durch die Zeit des Mittelalters mit Hrabanus Maurus, Walahfrid Strabo, Petrus Abaelardus, Adam von St. Victor, Hildegard von Bingen und Thomas von Aquin bis hin zu den späteren, Arnulph von Löwen, Johannes Peckham, Christian von Lilienfeld und Petrus Olavi. Ein gutes Dutzend Namen, die ein ganzes Jahrtausend umspannen. Und nur von einer geringen Zahl von Verfassern wissen wir die Namen, weitaus grösser ist die der unbekannten Dichter.

Wie die romanischen Dome und gotischen Kathedralen, deren Baumeister wir nicht kennen, legen diese Dichtungen Zeugnis ab vom Denken, Glauben und Schaffen in vergangenen Zeiten. Noch heute ist es uns vergönnt, an deren Schöpfungen teil zu haben, wenn wir bereit sind, uns auf diese Tradition und dieses Erbe zu besinnen.

Diese Dichtungen mögen aus ferner Zeit oder gar aus einer anderen Welt kommen, das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch heute zu uns sprächen oder dass unsere Zeit ihrer nicht bedürfte. „Am tiefsten unterscheidet wohl dies die heutige Welt von der vor tausend Jahren: dass der Heutige das Geheimnis als dunkel empfindet und meist im Stoffe darnach sucht. Jene suchten nach dem Geheimnis im Geiste und im hellsten Licht. Aber gerade dieser Unterschied muss nicht nur Trennung bedeuten: der Gegenpol bindet den Pol." (Wolfram von den Steinen)

Mit andern Worten: "Der christliche Hymnendichter ist nicht Deuter, sondern Künder der höchsten Wahrheiten ..." (Andreas Schwerd)

So gelingt es etwa dem unbekannten Dichter des "Ave, maris stella" mit einem Wortspiel "sumens illud Ave" "mutans nomen Evae" den Bogen von Eva im Paradies bis zum Ave des englischen Grußes des Erzengels Gabriel zu spannen und die ganze Heilsgeschichte in zwei Verse zu verdichten.

Noch heute erreichen uns die Verse, welche die gewaltige Schar anonymer Schreiber in den Skriptorien der Klöster unermüdlich auf dem Pergament festhielten und liebevoll ausschmückten, im Austausch mit andern Klöstern weitergaben und über das ganze Abendland, das man heute Europa nennt, verbreiteten.

Leider gewinnt man den Eindruck, dass dieses Erbe, das die Kirche durch Jahrhunderte gepflegt hat, manchem ihrer Vertreter heute kaum mehr etwas bedeutet, dass sie ihm ratlos gegenüberstehen, damit kaum etwas anzufangen wissen und somit längst nicht mehr einem kirchlichen kulturtragenden Stand zugehörig betrachtet werden können. Tröstlich mag dagegen der Umstand sein, dass in zunehmendem Maß Kreise außerhalb der Kirche nicht müde werden, auf diesen unermesslichen Schatz hinzuweisen.

Bis auf unsere Tage leben viele dieser Hymnen und Sequenzen im Messbuch, im Brevier der Priester und Mönche, noch heute erklingen sie im Gesang des Stundengebetes, mehrmals täglich, und stimmen, una voce et sine fine dicentes, mit ein in den Lobgesang der himmlischen Scharen.

1. Advent 2010
René Strasser
Michael Charlier

Zur Auswahl

Diese Sammlung enthält Hymnen des Breviers und des Missales sowie Hymnen aus der frühchristlichen Zeit und aus dem lateinischen Mittelalter, ausnahmsweise auch spätere. Neben liturgischen Texten stehen nicht-liturgische oder nicht mehr in liturgischem Gebrauch stehende religiöse Dichtungen. Der bescheidene Anfangsbestand soll, so der Plan, im Lauf eines oder mehrerer Kirchenjahre deutlich erweitert werden; ein Abschluß im Sinne von Vollständigkeit steht nicht zur Debatte.

Texte, die noch heute in liturgischem Gebrauch sind, werden in der Fassung des Missale Romanum und das Breviarium Romanum, und zwar in lateinischer und deutscher Sprache wiedergegeben. Vergleicht man das Breviarium Romanum mit dem Breviarium Monasticum, stellt man fest, dass beide Breviere etwa denselben Hymnenbestand aufweisen, dass das römische Brevier aber häufig abweichende und gänzlich veränderte Fassungen aufweist.

Die Einstellung gegenüber den Änderungen, denen die Hymnen zu liturgischen Gebrauch unterworfen wurden, hat sich im Laufe der Zeit gewandelt.

„Die Brevierreformen unter Pius V. und Urban VIII. haben kaum eine der frühchristlichen Hymnen mit der prosodischen Lupe verschont; wissenschaftlich ist das Bedenkliche solchen Beginnens genugsam erwiesen: ‚Accessit latinitas et recessit pietas’.“ (Hans Rosenberg)

„Man ist längst übereingekommen, daß jene prosodischen ‚Verbesserungen’ keine sind, daß ein Vers von Ambrosius oder dem großen Gregor mit beliebig vielen prosodischen Verstößen unvergleichlich wertvoller ist als der glätteste Dimeter eines römischen Hofhumanisten aus dem 16. oder 17. Jahrhundert.“ (Hans Rosenberg)

„Jetzt bricht sich allmählich die Überzeugung Bahn, daß die von den Humanisten so unbarm­herzig verurteilten sog. Prosodiefehler in Wahrheit wohlberechtigte Eigentümlichkeiten der volkstümlichen und spätlateinischen Poesie waren, daß die Erzeugnisse der patristischen und mittelalterlichen Dichtkunst überhaupt nach ganz andern Regeln und Anschauungen zu beur­teilen sind, als nach denen, welche den Klassikern und der Renaissance geläufig waren, und daß die Hymnen in ihrer alten Form lediglich auf den Gesang berechnet und dazu mehr ge­eignet waren als die an Elisionen und anden Künstlichkeiten überreichen neuen Gestaltun­gen.“ (Kirchen-Lexikon)

Mit gutem Grund wird auch der gegenteilige Standpunkt vertreten.

„Wie in der Einleitung dargelegt ist, haben die lateinischen Hymnen im Laufe der Zeit man­che Änderungen erfahren, meistens nicht zu ihrem Vorteile. Trotzdem bringen wir sie in den Fassungen der jetzigen Liturgie, einmal weil ihnen diese eine besondere Weihe verleiht, und dann auch, weil sie den meisten Übersetzern als Vorlage gedient haben.“ (O. Hellinghaus)

Auch die Änderungen und Ergänzungen sind ein Stück Literatur- und Liturgiegeschichte, die dokumentiert sein will, und zudem haben diese liturgischen Textfassungen, die seit Jahrhun­derten bis heute Tag und Nacht gebetet und gesungen werden, neben ihren Vorlagen ein ehr­würdiges Eigenleben gewonnen und dank ihnen und mit ihnen ist durch Jahrhunderte ein großes Erbe lebendig erhalten und bis in unsere Zeit weitergegeben worden.

Hier wird deshalb versucht, beiden Standpunkten gerecht zu werden.

Zu den im Brevier für das Stundengebet adaptierten Fassungen werden in den Scholia, die Anmerkungen zu den Texten enthalten, oder an anderer Stelle zudem entweder die wichtig­sten Abweichungen dokumentiert oder die ursprünglichen Fassungen in unverändertem Wortlaut und ungekürzt wiedergegeben.

Die Edition der Texte richtet sich nicht primär nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten, erfolgt aber mit gebotener Sorgalt und auf solider Textgrundlage.

Ähnliches wie zu den verschiedenen Fasssungen und Redaktionen der lateinischen Hymnen gilt für die deutschen Übersetzungen. Wo immer sich eine solche anbot, wurde bereits vorhandenen und im Gebrauch erprobten Übersetzungen gegenüber Neuübersetzungen der Vorzug gegeben. Denn wie die lateinischen Hymnen selbst gehören auch die Leistungen der Übersetzer und Nachdichter zum großen Erbe, und sie stehen im Dienst, ein weitgehend verschüttetes Erbe der Kirche zu erschließen, weiterzugeben und zugänglich zu machen.

Die Übersetzungen sind abwechselnd bald in Prosa, bald in metrischer Form gehalten. Ge­reimte Übersetzungen erscheinen nur, wenn die lateinische Vorlage selbst den Reim aufweist, abgesehen von wenigen Ausnahmen, zum Beispiel in Fällen, wo die gereimte Übersetzung zum geläufigen volkstümlichen Kirchenlied geworden ist.

Auch wenn sich unter den Übersetzungen eigentliche Nachdichtungen finden, wollen die Übertragungen in erster Linie helfen und dazu beitragen, das Original zu verstehen.

Gelegentlich wird zudem einer dichterischen Übertragung, etwa der des „Veni, Creator Spiritus“ von Johann Wolfgang von Goethe oder der des „Dies irae“ ergänzend eine Prosaübersetzung zugesellt.

Der Leser entscheidet, wie weit er die Handreichungen (Scholia, Miscellanea, De arte metrica, Vitae), die zusätzliche Informationen bieten, nutzen will.

Dieses Unterfangen, das hier in Angriff genommen wird, bringt nichts grundsätzlich Neues, es weiß sich eingebunden in eine lange Tradition lebendiger Überlieferung, und der Kompilator und Kopist stützt sich immer wieder und dankbar auf Vorgänger, auf frühere Herausgeber und Übersetzer, ganz besonders auf die herausragenden Leistungen von gelehrten Sammlern und Forschern des 19. Jahrhunderts wie Franz Josef Mone, Guido Maria Dreves, Clemens Blume und manch andern.

Non nova, sed noviter! Benedictus xv.

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