Die Oratio Rhythmica

Zur Einführung

Aus dem hohen Mittelalter stammt der vielteilige Hymnus „Oratio Rhythmica", dessen Text das Hymnarium zur Karwoche2012 samt deutscher Übersetzung präsentiert. Ein Abschnitt dieses mehrteiligen Hymnus auf die Wunden des gekreuzigten Erlösers bildete die Vorlage für Paul Gerhardts bekanntes Lied „O Haupt voll Blut und Wunden", das bis auf den heutigen Tag in den Gesangbüchern beider großer Konfessionen enthalten ist und seinerseits ins Englische und andere Sprachen übertragen wurde.

Der Hymnenzyklus „Oratio Rhythmica" war im späten Mittelalter und bis in die beginnende Neuzeit überaus populär. Das ließ zahlreiche Varianten entstehen, deren Bearbeiter sich offenbar frei fühlten, die Vorlage ihren persönlichen Vorlieben oder den Gegebenheiten eines konkreten Vortrags anzupassen. So hat es auch Dietrich Buxtehude gehalten, dem für seinen heute noch gerne aufgeführten und in zahlreichen Plattenaufnahmen vorliegenden Kantatenzyklus „Membra Jesu nostri" eine Fassung mit sieben Strophen zur Vorlage diente, wobei er innerhalb der Strophen beträchtliche Kürzungen vornahm.

Crucifixus Dolorosus aus St. Severin, Köln.
Einige Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen der Darstellung des leidenden Erlösers in der bildenden Kunst und in der Dichtung finden Sie hier auf Summorum-Pontificum.

Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, daß es bis auf den heutigen Tag keine einwandfrei festgestellte „Urfassung" der Oratio Rhythmica gibt. Die Unsicherheiten beginnen bereits bei der Autorschaft, die jahrhundertelang Bernard von Clairvaux zugeschrieben wurde, während seit Dreves Arnulph von Löwen als Verfasser angesehen wird. Der Umfang des Textes, Zahl und Reihenfolge der Strophen sowie der Wortlaut einzelner Zeilen weisen bei den verschiedenen Varianten die größten Unterschiede auf. Einen durchaus noch erweiterungsfähigen Eindruck von der schwierigen Überlieferungslage gibt Mone (Bd. I, S. 162 ff), der in der Hauptsache nur 4 Strophen wiedergibt, um dann mehr oder weniger ausführlich auf zahlreiche Varianten (einschließlich einer zehnstrophigen) einzugehen.

Die hier vorgelegte Fassung will keinesfalls eine offensichtlich noch ausstehende wissenschaftliche Edition ersetzen. Sie bietet eine (hoffentlich) plausible Zusammenstellung aus den beiden wohl bekanntesten neuzeitlichen Editonen des Textes, die beide aus der Mitte des 19. Jahrhundert stammen. Dabei handelt es sich um die von J.P. Migne herausgegebene Version in Bd. 184, col. 1319 sqq. der Patrologia Latina und die von Mone mitgeteilte Fassung im ersten Band seiner dreibändigen Sammlung, S. 162 ff.

Die Fassung Mones ist zweifellos die nach ihrer Methodik solider begründete, sie wird daher auch von Dreves 1909 und Spitzmuller 1971 in ihren Sammlungen weitgehend zugrunde gelegt – allerdings bei beiden unter Ergänzung um den bei Mone noch nicht einmal als eine von zahlreichen Varianten aufgenommenen 5. Abschnitt auf das Haupt. Diesen präsentieren beide allerdings nicht in der Form, die Paul Gerhardt als Vorlage für „O Haupt voll Blut und Wunden" diente, sondern in einer (nach Dreves älteren) Form, die das Hymnarium bereits einmal als „Salve caput reverende" einzeln vorgestellt hat.

Die Fassung von Migne, die hier nur in einer Internetversion der Bibliotheca Augustana der Hochschule Augsburg herangezogen werden konnte, scheint editorisch noch dem Stand des 18. Jahrhundert zu entsprechen. Sie schreibt die Autorschaft des Gesamthymnus ebenso wie Mone noch Bernard von Claiveaux zu und enthält einige zweifelhafteTextstellen. Sie hat allerdings aus der Sicht des Hymnariums den Vorteil, daß sie genau die 7 Abschnitte bietet, die auch Buxtehude seinem Kantatenzyklus (mit stark gekürzten Strophen) zu grunde gelegt hat. Alles spricht dafür, daß es auch diese Fassung war, die Paul Gerhardt vorlag, denn er hat neben dem Abschnitt auf das Haupt auch die anderen Abschnitte übersetzt, darunter auch den den (nach Migne) 6. Abschnitt auf das Herz  der in der Mone/Dreves-Tradition gar nicht enthalten ist. Und ebenso wie in der Migne-Fassung hat „O Herz des Königs aller Welt" sieben Strophen, während alle anderen Abschnitte jeweils nur fünf Strophen haben.

Auf Grund dieser Überlegungen haben wir uns hinsichtlich des Textumfangs an Migne orientiert. Allerdings bietet Migne in einigen Strophen an einer oder mehreren Stellen Lesungen an, die wenig Sinn ergeben – diese können in den meisten Fällen mit Gewinn durch die entsprechenden Stellen bei Mone oder Dreves ersetzt werden. Das ist dann hier auch ohne besonderen Nachweis mehrfach erfolgt.

Inwieweit diese Fassung einem „Original" aus dem 13. Jahrhundert nahekommt, ist aus der Perspektive des Hymnariums nicht zu sagen. Die Tatsache, daß eine Fassung mit sieben Abschnitten früh in die Werke Bernhards von Clairvaux aufgenommen worden ist, spricht jedenfalls für deren beträchtliches Alter, und ihre Verwendung durch Buxtehude und wohl auch Paul Gerhardt deutet darauf hin, daß sie im 17. Jahrhundert weit verbreitet war.

Zur Übersetzung

Schon ein kurzer Blick auf den lateinischen Text macht plausibel, daß eine Übersetzung, die auch nur entfernt Form und Inhalt der Vorlage gerecht würde, kaum zu leisten ist. Die wunderbaren Fassungen von Paul Gerhardt sind Nachdichtungen, die Sinn und Eindruck des Originals hervorragend übermitteln, dabei aber im Einzelnen im Wortlaut vielfach abweichen – beim „Haupt" übrigens noch stärker als beim „Herz". Die Paul-Gerhardt-Versionen sind bereits in den Scholien zum 6. und 7. Abschnitt mitgeteilt, bei den anderen werden sie baldmöglichst nachgereicht.

Unsere Übersetzung beschränkt sich darauf, nach Möglichkeit Zeile für Zeile so wörtlich wie möglich wiederzugeben und die Zusammenhänge zwischen den Satzgliedern (die im lateinischen Text oft locker genug sind) wenigstens andeutungsweise herzustellen. So bietet diese Übersetzung zwar eine Verständnishilfe für den lateinischen Text – sie kann es aber nicht ersetzen, diesen hoch rhythmisierten und nach unterschiedlichen Schemata gereimten lateinischen Text selbst zu lesen – am besten laut.

Die Reime selbst lassen an einigen Stellen erkennen oder wenigstens vermuten, daß der Autor dem romanischen Sprachraum angehört. So etwa in pars IV in der 5. Strophe mit dem Reim „profunde" auf „reconde" Der Autor verwendet an mehreren Stellen Verben, die in unüblicher Weise durch Präfixe erweitert sind. Teilweise können diese Vorsilben als Intensivierungen inhaltlich verstanden werden, vielfach erscheinen sie jedoch hauptsächlich zur Einhaltung des Versmaßes eingeschaltet worden zu sein.

Michael Charlier


Oratio Rhythmica

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