Zur Sequenzendichtung
Geschrieben von: René Strasser Mittwoch, den 24. November 2010
Die drei wichtigsten Formen des christlichen Kirchengesanges sind die Psalmodie, der Hymnus und die Sequenz.
Die Psalmodie ist das rezitativische Singen von Texten aus der Bibel; es geschah dies in responsorischer Vortragsweise, sei es dass ein Vorsänger einen Vers sang, auf den die Gemeinde antwortete, sei es, dass sich zwei Chöre im Wechselgesang ablösten.
Der Hymnus unterscheidet sich von der Psalmodie darin, dass er sich nicht auf Bibeltexte abstützt; formal geht er auf die antiken Vers- und Strophenschemen und die quantitierende Silbenzählung zurück. Inhaltlich ist der Hymnus als Ausdruck persönlichen Empfindens religiöse Dichtung.
Ambrosius schließlich fand zu einer eigenen Strophenform, dem sogenannten metrum ambrosianum, das bald in der ganzen damaligen Kirche verwendet wurde.
Die Sequenz schließlich ist die jüngste Form des Kirchengesanges; formal schließt sie an die responsorische Psalmodie an, inhaltlich ist sie religiöse Dichtung wie der Hymnus.
Wegen ihres nicht metrischen Charakters im Sinne der Antike bezeichnete man die Sequenzendichtungen als Prosen (prosae).
Auf die Zeit, als die Sequenz als Kunstform ihren Höhepunkt erreicht hatte und die Formung einer Sequenz zu bewusster und virtuoser Kunst geworden war, geschah, was sich in der Kunst immer wieder beobachten lässt. Es folgte eine Phase der Verfeinerung und der gekünstelten Virtuosität. Dies und die Tatsache, dass sich die Humanisten auf die Tradition der Antike zurückbesannen, mit dem akzentuierenden und gereimten Latein wohl wenig anzufangen wussten und dabei die Kunstform der Sequenz verkannten, führte dazu, dass bei der liturgischen Reform des Tridentinischen Konzils (1545 – 1563) die Sequenzen aus der Liturgie fast völlig entfernt wurden, so dass heute nur noch deren fünf in liturgischem Gebrauch sind.
„Eine Sequenz besteht aus einer Anzahl oft verschieden gebauter und verschieden langer Strophen; erst die Sequenz als solche bildet ein eigentliches rhythmisches Ganzes, einen innerlich verbundenen und geordneten Bau von Melodien (auch im sprachlichen Sinn), zu denen alle Einzelstrophen trotz ihrer Verschiedenheit und scheinbaren Unregelmäßigkeit in einem wohlabgewogenen Verhältnis der Einordnung und der Zusammenordnung stehen.“
(Adam von Sankt Viktor. Sämtliche Sequenzen. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Übertragen von Franz Wellner. Wien 1937, S. 367)
Es werden bei der Sequenz drei Phasen ihrer Entwicklung unterschieden (vgl. Analecta hymnica medii aevi. LIV. Liturgische Prosen des Übergangsstiles und der zweiten Epoche. Herausgegeben von Clemens Blume und H.M. Bannister. Leipzig 1915, S. V f.), auch wenn eine scharfe Trennung kaum je zwingend erfolgen kann.
Erste (notkerische) Epoche
Die Sequenzen dieser Epoche „sind durchweg frei von den Gesetzen der Metrik, Rhythmik und des Reimes“ (Clemens Blume, a.a.O. S. V); sie zeichnen sich aber aus durch einen symmetrischen Aufbau, dergestalt, dass sich immer zwei Strophen paarweise entsprechen; die unpaarigen Eingangs- und Schlussstrophen einer Sequenz dieser Epoche umrahmen die paarigen.
Übergangsepoche oder Übergangsstil (sequentiae transitoriae)
Diese Bezeichnung beinhaltet kein zeitliches, sondern ein formales Kriterium. Allmählich werden feste Rhythmen und Reim verwendet. Diese Entwicklung findet nicht überall zeitgleich statt.
Als charakteristisches Beispiel von Sequenzen des Übergangsstils gilt die Ostersequenz „Victimae paschali laudes“ von Wipo, die noch heute in der Liturgie verwendet wird.
Gleichzeitig wäre hier die Sequenz „Laetabundus exsultet fidelis“ zu nennen, „eine der beliebtesten und gesungensten Sequenzen des Mittelalters, die sich vom Anfange des 12. Jahrhunderts an fast in jedem mittelalterlichen Meßbuche, in jedem Graduale, jedem Tropar findet. Zugleich eine derjenigen Sequenzen, die am meisten nachgeahmt wurden, oder richtiger, die am häufigsten ihre Singweise neuen Sequenzen leihen mußte.“ (Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Ein Jahrtausend Lateinischer Hymnendichtung. Zweiter Teil. S. 17).
Zweite (adamische) Epoche (sequentiae rhythmicae et rigmatae)
Als Beispiele vollkommener, regelrecht gebauter Sequenzen gelten die Adam von Sankt Viktor zugeschriebenen. Sie zeichnen sich durch die Beachtung folgender Gesetzmäßigkeiten aus:
- „regelrechter, auf dem natürlichen Wortakzent (nicht auf der Quantität der Silben) beruhender Rhythmus, so daß der Versakzent ausnahmslos mit der gewöhnlichen Wortbetonung harmoniert;
- innerhalb des Verses eine gleichmäßige Zäsur, die mit dem Wortschlusse zusammenfällt;
- reiner, mindestens zweisilbiger Reim.“ (Clemens Blume, a.a.O. S. VI)
Wurde lange die Ansicht vetreten, die Sequenzentexte seien wortlosen Melodien im Graduale nach dem Alleluja unterlegt worden, so ist dieser Erklärung einer differenzierteren Betrachtung gewichen. Man sieht heute in den „vom Text völlig losgelösten Aufzeichnungen von Sequenzenmelodien“ (sequelae) nun vielmehr Melodieaufzeichnungen bestehender Sequenzen. „Die erstere Auffassung ist aufgegeben; man weiß jetzt, daß es sich hier um Melodieaufzeichnungen fertiger Sequenzen handelt, daß sie also wenigstens einen vor ihrer Niederschrift zu dieser Melodie gesungenen Text zur Voraussetzung haben, die ‚Stammsequenz’ des betreffenden Schemas.“ (Georg Reichert, Strukturprobleme der älteren Sequenz, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [23] 1949, S. 231f.)
Wie immer es sich damit verhalten mag, für die künstlerische Gesamtwirkung einer Sequenz ist die musikalische Gestaltung von höchster Bedeutung, und bei der Betrachtung und Würdigung derselben dürfen melodische und textliche Form und Struktur nicht voneinander getrennt werden.
Sequenzen wie „Verbum bonum et suave“, „Hodiernae lux diei“ und „Mane prima Sabbati“ gehören nicht allein um ihrer dichterischen Vorzüge willen zu den beliebtesten des Mittelalters; auf ihre Melodien „sind zahllose andere gedichtet und gesungen worden, woraus hervorgeht, daß an der Beliebtheit der Sequenz(en) auch die Singweise wesentlich beteiligt war“. (Guido Maria Dreves, Clemens Blume, a.a.O. S 264)
Die Sequenz erreicht bei Adam von Sankt Viktor ihre höchste künstlerische und formale Vollendung. „Bei Adam von St. Viktor waltet nun aber in diesem Rahmen eine wahrhaft schöpferische Gabe künstlerischen Aufbaues, die Inhalt und Form zu einer fast mystisch anmutenden Vereinigung und Wechselwirkung gelangen läßt. Das eigentliche gedankliche und erzählende Fortschreiten ist meist den regelmäßigen Strophen des Sequenzenschemas vorbehalten (...) Vollends gegen das Ende zu scheint das Sequenzenschema dem überströmenden Gefühl des Dichters zu eng zu werden; darum erweitert er es zu acht- und zehnzeiligen Strophen und läßt den Reimschmuck immer reicher und reicher werden, bis schließlich jene ganz in Wohllaut gelösten Strophengebilde entstehen, die (Eugène) Misset so schön mit schlanken gotischen, immer höher und höher zum Himmel empostrebenden Pfeilern verglichen hat.“ (Franz Wellner a.a.O. S. 368f.)
Dazu ist anzumerken und zu ergänzen, „daß Adam von St. Viktor zu seiner Zeit nicht allein dastand als Meister klassischer Prosendichtung, sondern ebenbürtige Zeitgenossen und gar Vorläufer hatte, deren Produkte den seinigen in nichts nachstehen“ und „dass gleichzeitig in Deutschland St. Florian und Seckau eine ähnliche Blüte dieser Dichtungsart aufweist“ (Clemens Blume, a.a.O. S. XIII und XVII).
Als Beispiele wären hier etwa „Candor surgens et aurora“ und „Ave, candens lilium“ zu nennen; sie zeigen uns „die deutsche Sequenzendichtung des 12. Jahrhunderts auf derselben Höhe, den diese Art Poesie in der Heimat des großen Sängers von St. Viktor erreicht hatte“. (Guido Maria Dreves, Clemens Blume, a.a.O. S. 20)
In der Sequenz verbinden sich formbildende und inhaltliche Elemente, sie wird gesungen zum Lobe Gottes, damit der Mensch seine Erlösungsbedürftigkeit wie auch die Heilsgewissheit erkenne, und so richtet sie sich auf den Menschen aus: „der spezielle liturgische und geistige Sinn der Gattung besteht in dem Vordringen eines neuen menschlichen, persönlicheren Tons und eines erregenden seelischen Charakters gegenüber der mehr unpersönlichen, hieratischen Haltung der älteren liturgischen Gesänge; die poetischen und musikalischen Eigenwerte der Sequenz sind oft bedeutend und wurden gewiß auch als solche erlebt, aber wohl kaum als Selbstzweck, sondern als Gestaltung eines lebendigen Anliegens.“ (Georg Reichert, a.a.O. S.251. Vgl. dazu ferner Wolfram von den Steinen, Tausendjährige Hymnen, S. 90)
Gerade weil dies so ist, ist die fast vollständige Entfernung der Sequenz aus der Liturgie umso bedauerlicher und schmerzlicher.
„Damit sind aber nicht nur hohe dichterische Werte unbilligerweise der Vergessenheit anheimgefallen, sondern auch ein großes und eigenartiges Gebiet andächtiger Erhebung der verdienten Pflege entrückt; denn in den Sequenzen, und vollends in denen Adams von St. Viktor, lebt, wie nirgends sonst, die ganze freudige Heilsgewißheit des gläubigen Herzens, die unverlierbare Siegeszuversicht der kämpfenden und alle Herrlichkeit der triumphierenden Kirche.“ (Franz Wellner, a.a.O. S. 9f.)
Und das ist umso mehr zu beklagen, als dieser Schatz vielgestaltiger, reicher und erhebender ist als der Großteil dessen, was eine sogenannte neue Theologie oder Pastoral zu bieten vermögen.
Zur druckgraphischen Darstellung der Sequenz
Die druckgraphische Darstellung einer Sequenz ist von einiger Bedeutung, denn diese ermöglicht es, deren Struktur auch optisch fassbar und verständlich zu machen. Wo zwei Strophen einander zuzuordnen sind, inhaltlich und strukturell, und wo sie sich paarig entsprechen, sollten sie im Idealfall einander in zwei Spalten auf gleicher Höhe gegenüber stehen.
„Es unterliegt keinem Zweifel, daß je ein Vers auch graphisch, im Druck, durch je eine Verszeile wiedergegeben sollte. Ist jedoch ein Vers etwas umfangreich, dann ergibt sich aus dem Übelstande, daß das Format der Analecta Hymnica nicht gleich anfangs genügend groß vorgesehen ist, eine Schwierigkeit. Dieselbe macht sich bei den Sequenzen, in denen Strophe und Gegenstrophe nebeneinander zu stellen sind und daher der Text auf einer Seite stets in zwei Kolumnen zu verteilen ist, besonders bemerkbar. Um sie zu beheben, blieb nur das eine Mittel übrig, längere Verse, die nicht in einer Zeile untergebracht werden konnten, zu brechen. Ist aber einmal eine solche Brechung aus rein technischen Gründen nötig, dann wird sie am entsprechendsten nach der Hauptzäsur des Verses vorgenommen. (...)
Keineswegs aber soll durch diese Zeilenbrechung ein Vers in zwei Verse zerlegt werden; dieser irrigen Annahme wird schon dadurch vorgebeugt, daß nach der Brechung die Zeile eingezogen ist und sie nicht mit einer Majuskel beginnt. – In manchen Versen ist Binnenreim, und zwar an der Zäsurstelle. Wenn in solchen Fällen, auch ohne Notwendigkeit aus dem genannten technischen Grunde, der Vers in zwei Zeilen zerlegt wurde, so geschah dies, um den Reim fürs Auge leichter kenntlich zu machen. Wer verständnisvoll liest, wird nicht gleich herauslesen, daß hier aus einem Verse zwei Verse fabriziert seien. Wie überall, so führt auch hier rein mechanische Gesetzmäßigkeit zu geisttötender Pedanterie.“
(Analecta hymnica medii aevi LIV. Thesauri hymnologici prosarium. Partis alterius Volumen I. Liturgische Prosen des Übergangsstiles und der zweiten Epoche. Aus Handschriften und Frühdrucken neu herausgegeben von Cl. Blume und H.M. Bannister. Leipzig 1915, S. XIXf.)
Wenn Clemens Blume bedauert, dass das Buchformat der Analecta hymnica für die Darstellung der Sequenzen nicht richtig bedacht und gewählt worden sei, dann ist das für die Formate im Internet weit mehr zu beklagen. Die von Clemens Blume dargelegten Grundsätze gelten bis auf eine Einschränkung weitgehend auch hier.
Im Falle dieses Hymnariums wurde entschieden, grundsätzlich alle Texte lateinisch und deutsch einander gegenüberzustellen, so dass der Leser auf Grund der benutzerfreundlichen Darstellung die beiden Fassungen sehr leicht miteinander vergleichen kann.
Wenn dieser Grundsatz auch im Fall der Sequenzen durchgehalten werden sollte, würde das bedeuten, dass dafür vier Spalten nebeneinander notwendig wären, und das ist im Internet nicht zu leisten.
Im Falle der Wiedergabe der Sequenzen heißt dies, dass dem Text und dem Textverständnis gegenüber dem Deutlichmachen der Strophenanordnung und Struktur Vorrang eingeräumt wurde. Der Nutzer findet dafür gleichsam als Entschädigung Hinweise dazu in den „Scholia / Marginalia“.
vgl. Wolfram von den Steinen, Die Anfänge der Sequenzendichtung. Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte, 40 (1946), S. 190-212, 241-268 und 41 (1947), S. 19-48, 122-162